III. Materialität bei Braun
Techniken der Digitalisierung und Materialisierung haben eine lange Tradition im Design, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht, und die für das Verständnis aktueller Entwicklungen im Bereich der digitalen Produktion wesentlich ist: Das Design, so könnte man sogar sagen, hat nahm in seinen Prozessen Produktionsweisen der Makerkultur vorweg. Hinsichtlich der digitalen Produktion wurde auf Modellbau- und Prototypingebene vorweggenommen, was erst in der Breite heute verfügbar und in der medialen Diskussion wahrnehmbar wurde, als Schreibtisch 3D-Druck-Geräte für jedermann den Markt erreichten. Industriedesign ist damit keinesfalls überflüssig, es bildet vielmehr das strukturelle Vorbild für Produktionsweisen der Makerkultur.
Als im September 2012 die erste Istanbul Design Biennale eröffnete, die unter dem Titel »Adhocracy« neue Produktionsverfahren versammelte, waren 3D-Drucker, Maker und Nerds in aller Munde.[1] Die von Jospeh Grima und Elia Stefa kuratierte Biennale zeigte zum Beispiel einen von dem belgischen Designduo Claire Warnier und Dries Verbruggen entwickelten Keramik-3D-Drucker, der in einem generativen Prozess gestaltete Tassen produzierte. Im Sinne einer »Adhocracy« sollten Bastler der nächsten Generation anhand digitaler Produktionsprozesse eine dezentrale, demokratische und lokale Produktionsweise etablieren – jener utopische Gedanke der Umweltbewegung der 1970er Jahre, in deren Kontext auch der für das Konzept der Ausstellung maßgebliche Text Adhocism. The Case For Improvisation von Charles Jencks und Nathan Silver entstand.[2] Die Kuratoren der Ausstellung sehen in der Digitalisierung von Do-It-Yourself-Strategien einen für das etablierte Design neuralgischen Punkt. »For the first time, the prospect exists of an equivalency of influence between the strategies of states or corporations and the tactics of individuals, and in response, established structures of power are quickly evolving.«[3]
In den Designmedien und Feuilletons überschlug man sich förmlich vor Aufregung: Die neuen Produktionstechniken, so hieß es, würden bald allseits verfügbar sein und dann in jedem Wohnzimmer die Produktion von Alltagsdingen übernehmen. Jeder, so die Hoffnung, könne von nun an ein Designer sein. »In the Shifting World of Product Design, the User Now Has a Voice«, konstatierte die Designjournalistin Alice Rawsthorn in der New York Times. »In jedem Kinderzimmer steht demnächst eine Fabrik« und der »Star Treck-Replicator« würde endlich »Realität« werden, hieß es in der FAZ. Die Macht der Konzerne würde gebrochen, da, so konstatierten die Journalisten Holm Friebe und Thomas Ramge, die »Marke Eigenbau« sukzessive passive Konsumenten in aktive »Prosumenten« verwandeln würde.
Auch amerikanische Startups und Silicon-Valley-Entrepreneure witterten in den neuen Produktionstechniken Chancen, jedoch weniger mit Blick auf die Ermächtigung der Konsumenten, als darin, neue, »disruptive« Geschäftsfelder zu ergründen. Der damalige »Wired«-Chefredakteur Chris Anderson versuchte sich als einer der Hauptakteure an die Spitze der sogenannten »Maker-Bewegung« zu setzen, die jahrelang weitestgehend unbemerkt ein Dasein in den Garagen von Bastlern, in den Forschungslaboratorien des MIT Media Lab sowie auf den von der Zeitschrift »Make« organisierten Treffen von Nerds und Bastlern gefristet hatte.
Worin aber bestand die Verschiebung durch die Maker-Beweung, worin bestand das Neue insbesondere am 3D-Druck, das die Rede von der dritten industriellen Revolution einiger Protagonisten begründete? Kurz gefasst bestand die Verschiebung durch die Erfindungen und Entwürfe der Maker darin, dass Konstruktionspläne für Maschinen und Produkte mit vergleichsweise komplexer Technologie im Netz geteilt und in einer Art kollektiven, partizipatorischen Prozess weiterentwickelt wurden. In dieser Hinsicht kann man sagen, dass es sich um ein Phänomen der Postidgitalität handelt.[4] Wobei mit der Begriff »Postdigitalität« ist hier nicht in dem Sinne verstanden werden soll, das Digitale sei vorüber oder obsolet [check Folien aus dem Interface-Seminar], gemeint ist vielmehr der Umstand, dass eine Strategie des Digitalen – also das Entwicklen von Programmen in einem netzwerkhaften, partizipativen Prozess – auf die Produktion von analogen Prozessen übertragen wurde, die ehemals in den abgeschlossenen Entwicklungsabteilungen der Industrie stattfand.[5] Dabei gibt es noch weitere Aspekte, die Postdigitalität charakterisieren auf die ich später noch zurückkomme. An dieser Stelle gilt es nur festzuhalten, dass die damals scheinbar unmittelbar bevorstehende »dritte industrielle Revolution«, die Chris Anderson durch die massenhafte Verbreitung von selbstgebauten 3D-Druckern, Lasercuttern und CNC-Fräsen als das »nächste große Ding« bestimmte, ausgeblieben zu sein scheint. Das Versprechen, jeder könne, durch die Öffnung ehemals industrieller, hochspezialisierter Verfahren, zum Designer oder zur Designerin werden, nicht eingelöst werden. Weiterhin ist Design ein Prozess für Spezialisten. Gleichwohl hat sich hier eine nicht unbedeutende Gruppe von Individuen versammelt, die jenseits serieller Produktion Dinge produzieren, anhand von Strategien, die sich mit dem Stichwort der »Postdigitalität« beschreiben lassen. Sie bilden darin zwar auf den ersten Blick eine Gegenposition zum klassischen Industrial Design, für das in Deutschland insbesondere Entwürfe der späten Moderne wie die Rasierapparate von Braun, als paradigmatisch gelten können. Sie nehmen zum Beispiel Tendenzen der Postmoderne auf, in der ähnliche Fragen verhandelt wurden. Auf der anderen Seite verändert ihr Tun inzwischen auch die Industrie.[6]
Ich möchte daher im Folgenden darstellen, wie die Postdigitale Materialität und die Öffnung des Designprozesses mit dem klassischen Industriedesign zusammenhängen und wie sich durch Initiativen des Open Source und der Partizipation auch das Design der Designer verändert.
Die historischen Beispiele, die oben andiskutiert wurden, lassen vermuten, dass es verkürzt wäre, das Thema der Postdigitalen nur als Phänomen der Maker aufzufassen. So war die Ausstellung in Istanbul (und in Analogie die ganze Maker-Bewegung) in der all die von Journalisten, Entrepreneuren und Gestaltern formulierten Ansprüche, Hoffnungen und Ideen zu kulminieren schienen, nicht nur auf den 3D-Druck als nunmehr massentaugliche Technologie fokussiert. Vielmehr lag ihr Anspruch darin, auch historische Versuche zur Partizipation und Öffnung des Industriedesigns, die vor der Digitalisierung des Designs und seiner Produktionsprozesse lagen, zu rekonstruieren. So zeigte die Ausstellung zum Beispiel Entwürfe aus dem Handbuch »Autoprogettazione« von Enzo Mari von 1974. Die von der Do-It-Yourself-Bewegung und den Tendenzen zum mobilen Wohnen beeinflussten Entwürfe für ein Regal, einen Tisch, Stühle sowie ein Bett ließen sich vom Nutzer mit einfachsten Materialien selbst realisieren. Enzo Maris Möbel bestanden aus fertigen Holzprofilen, die bloß zugeschnitten werden mussten und mit Nägeln verbunden wurden. (Heute sind Teile der Kollektion zu Designklassikern avanciert, der Stuhl etwa wird seit 2010 von dem schwedischen Möbelproduzenten Artek produziert – womit freilich die Ideen von Partizipation und des Do-It-Yourself obsolet werden.) Ein weiteres, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis von Massenproduktion und Aneignung interessantes Artefakt in der Adhocracy-Ausstellung war die »Heineken World Bottle«, die 1963 von Alfred Heineken und John Habraken entwickelt worden war. Noch vor der Einführung von Pfandsystemen war diese Flasche zur Wiederverwendung konzipiert worden. Die Flasche konnte als Glasbaustein genutzt werden, daher besaß sie flache Seiten mit einem bestimmten Muster. Der Boden der Flasche besaß eine Einbuchtung, in die der Flaschenhals passte, sodass die Flaschen wie Steine übereinander geschichtet und mit Zement verbunden werden konnten. Die Flaschen sollten in Ländern der dritten Welt als Baumaterial dienen, der Entwurf ging jedoch nie in Produktion.
Worin aber besteht nun der Kreuzungspunkt von Offenem Design, Partizipation und dem klassischen Industriedesign? Der Vergleich kann nur dort gelingen, wo man auf den Prozess schaut. Denn gegenüber dem klassischen Industriedesign erscheinen die Produktionen der Maker, insbesondere die im 3D-Drucker produzierten Artefakte minderkomplex und beliebig. Die Prozesse ähneln sich aber in ihrer Struktur. Diskurse über Partizipation gehen davon aus, das Gestaltungsprozesse komplizierte Konstellationen aus verschiedenen Akteuren sind. Es wäre reduktionistisch sie auf das Bild des Experten oder des Genies zu begrenzen, wie dies beispielsweise in der späten Moderne geschehen ist.[7] Der Prozess, in dem beispielsweise der RepRap 3D- Drucker entwickelt wurde, ist ein offener, dezentraler Designprozess. Gleichzeitig sind auch die Gestaltungsprozesse der Experten bei näherem Hinsehen eine offene Struktur mit verschiedenen Akteuren, in der neue Techniken Verschiebungen bewirken und neue Designstrategien erzeugen. Die Vermutung ist, dass sich die Öffnung des Designs nicht nur in den Werkstätten der Maker, sondern mit den Veränderungen durch die postdigitale Materialität auch in den Werkstätten der Industrie ereignet hat.
Wenn also das Potential und die Bedeutung der neuen Techniken ergründet werden sollen, so muss man einen Blick in die Entwicklungsabteilungen der Unternehmen werfen. Die Designer bei Braun haben in ihren Prozessen vorweggenommen, was erst Eingang in die Alltagskultur findet, seitdem digitale Produktionsgeräte für jedermann als Schreibtischgeräte verfügbar wurden. Dies hängt einer langen Tradition von Modellbaupraktiken zusammen, die bis in das Industrial Design der Nachkriegsmoderne zurückreicht. Die Frage, wie digitale Technik unsere die Produktion von Alltagsgegenständen verändert, führt also geradewegs in die Geschichte des Designs.
Design und Technik waren von jeher miteinander verwoben. Neue Techniken und neue Materialien bilden die wesentliche Bedingung für Produktinnovationen, und sie liefern die Notwendigkeit, diese Innovationen zu gestalten. Dies gilt einerseits für die Produkte des Designs. Andererseits gilt dies auch für die Prozesse, die ihnen vorausgehen. In Designprozessen werden zur Herstellung von Modellen und Prototypen stets neueste Techniken eingesetzt – die oftmals erst viel später den Markt erreichen. Der Einfluss neuer Technologie auf die Designprozesse wird insbesondere an digitalen Produktionsverfahren sichtbar, die vor allem unter dem Label ,Industrie 4.0‘ oder ,Internet der Dinge‘ und als Triebfeder einer ,vierten industriellen Revolution‘ diskutiert werden. Sie scheinen den Designprozess von Grundauf zu verändern: Während die Arbeit von Industriedesignern in den 1950er Jahren geprägt war vom Umgang mit Skizzen und Modellen, so ist sie heute vom Umgang mit digitalen Modellen und digitalen Produktionstechniken geprägt.
Den Einfluss, den die technischen Entwicklungen bei den Herstellungsverfahren auf den Designprozesses haben, will ich in meinem Beitrag anhand von Entwurfspraktiken in der für das Industriedesign der Nachkriegsmoderne besonders prägenden Designabteilung der Firma Braun in Kronberg diskutieren. Vorab gilt es jedoch zu klären, was mit einer vierten industriellen Revolution und der Digitalisierung der Produktion gemeint ist, und in welchem Zusammenhang dies zum klassischen Industriedesign steht.
Die vierte industrielle Revolution
In der vierten industriellen Revolution geschieht die vormals handwerkliche oder maschinelle Verarbeitung von Material mittels digitaler Maschinen, etwa anhand von CNC-Fräsen, 3D-Druckern oder Lasercuttern. Diese Maschinen verursachen keine Werkzeugkosten, weil sie anhand digitaler Daten operieren. Sie können immer wieder neue Objekte produzieren. Sie sind damit als Modellbau- aber auch zugleich als Produktionsverfahren zu verstehen. Im Zuge der Verwendung dieser Techniken, so das Versprechen, kann sich die Vision einer vollautomatisierten, laborartigen Fabrik der Zukunft realisieren, in der Produkte ab einer Auflage von einem Stück hergestellt werden können. Insbesondere um Do It Yourself-3D-Drucker, die digitale Modelle in konkrete Materialien übertragen, hat sich in den letzten fünf Jahren ein regelrechter Hype entwickelt.[8] Täglich erscheinen viele neue Beiträge zu ihren künftigen Anwendungsgebieten. Der Wired-Autor Chris Anderson ist überzeugt, dass sie einen Material Turn auslösten.[9] Er vermutet, dass sich mit den neuen Techniken insbesondere der Designprozess von Alltagsprodukten radikal ändern wird. Die Nutzer werden den Platz von Designern einnehmen, sodass zukünftig vielleicht gar keine richtigen Industriedesigner mehr gebraucht werden. „Today, anyone with an invention or good design can upload files to a service to have that product made, in small batches or large, or make it themselves with increasingly powerful digital desktop fabrication tools such as 3D-printers.“[10] Eine Trennung zwischen Designern auf der einen Seite und Nutzern auf der anderen Seite soll es daher bald nicht mehr geben.
Bei aller Begeisterung für das Potential der Techniken geraten jedoch schnell deren Hintergründe aus dem Blick. Zunächst waren es die Designabteilungen selbst, die die Möglichkeiten von 3D-Druckern, CNC-Fräsen und Lasercuttern erkundeten. Sie trieben die Digitalisierung des Entwerfens, und damit auch die Demokratisierung von Design – wie ich weiter unten noch ausführlicher argumentiere – voran. Bereits seit den 1980er Jahren setzten Produktentwicklungsabteilungen in Unternehmen, z.B. die Firma Braun (einem Hersteller von Elektrokleingeräten in Kronberg) digitale Produktionsmethoden ein, um damit Modelle und Prototypen zu realisieren.
Wenn also das Potential und die Bedeutung der neuen Techniken ergründet werden sollen, so muss man einen Blick in die Entwicklungsabteilungen der Unternehmen werfen. Die Designer bei Braun haben in ihren Prozessen vorweggenommen, was erst Eingang in die Alltagskultur findet, seitdem digitale Produktionsgeräte für jedermann als Schreibtischgeräte verfügbar wurden. Hier hat sich schon in den letzten Jahrzehnten ein Material Turn vollzogen, wie ihn Chris Anderson für die heutige Tech-Industrie proklamiert. Dieser Material Turn hängt mit einer langen Tradition von Modellbaupraktiken zusammen, die bis in das Industrial Design der Nachkriegsmoderne zurückreicht. Die Frage, wie digitale Technik unsere die Produktion von Alltagsgegenständen verändert, führt also geradewegs in die Geschichte des Designs.
Die Produkte der Firma Braun aus Kronberg gelten als typisch für das Industrial Design der Nachkriegsmoderne. Die firmeninterne Designabteilung bildete das Modell für eine produktive Zusammenarbeit von Designern, Handwerkern, Technikern und Ingenieuren, die für nachfolgende Designergenerationen prägend war und die ähnlich strukturiert war wie heutige Zusammenarbeitsprozesse im Open Design.[11] Die 1955 gegründete und bis 1995 von Dieter Rams geleitete Designabteilung forschte – ähnlich einem naturwissenschaftlichen Labor – an der Entwicklung von Elektrogeräten.[12]Die hier entstandenen Entwürfe vom Rasierapparat bis zur Hifi-Anlage bildeten die Speerspitze des deutschen Industriedesigns, sie waren die Verkörperung der idealen, ‚Guten Form‘. Auch heute noch werden die Radios und Plattenspieler von Braun immer wieder ins Gedächtnis gerufen, und zwar vor allem dann, wenn von den Designs der Firma Apple die Rede ist. Mein Interesse gilt im Folgenden jedoch weniger den Produkten der Firma Braun als vielmehr ihrem Gestaltungsprozess. Ich will diesen Prozess mit Blick auf seine Digitalisierung skizzieren.
Die Digitalisierung des Entwerfens, so vermute ich, verlief in zwei Wellen. Zunächst betraf die Digitalisierung – genauer: die Einführung von CAD-Programmen – vor allem die Visualisierungen, die die Braun-Designer erstellten. Erst die zweite Welle der Digitalisierung war eine Digitalisierung der Verarbeitung von Material, sodass wir gegenüber einer von computergenerierten Simulationen geprägten Zeit von einem Material Turn sprechen können.
Als Material dient mir – neben einigen Publikationen über den Braun-Designprozess – ein Interview, das ich mit dem Braun-Designer Roland Ullmann geführt habe, sowie dessen Modelle aus der Sammlung des MAK in Frankfurt am Main.[13] Die Sammlung von Braun-Modellen aus den 1960er Jahren bis hinein in die Gegenwart dokumentiert nicht nur die Designentwicklung bei Braun, sondern auch die technischen Bedingungen der Hervorbringung von Design. Auch das Design des Designprozesses war prozesshaft und wurde von den neuesten Techniken beeinflusst.
Vordigitales Entwerfen bei Braun
Bis in die 1980er Jahre hinein waren die Entwurfsprozesse der Designer bei Braun von handwerklichen Prozessen geprägt. Ein wichtiges Mittel waren Zeichnungen. Bekannt sind aus dieser Zeit vor allem die Freihandskizzen von Dieter Rams, die er stets am Schreibtisch auf Skizzenpapier und in der Seitenansicht anfertigte. Es wurden auch sehr genaue technische Zeichnungen angefertigt, die der Ausarbeitung von Entwürfen dienten und die Vorlage für Modelle und Prototypen bildeten.
Für Roland Ullmann, der seit 1972 als Designer bei Braun angestellt und mit der Entwicklung von Rasierapparaten betraut war, stellte sich das technische Zeichnen rückblickend als eine höchst mühevolle Arbeit dar. Es erforderte Geschick und höchste Sorgfalt. Fehler ließen sich nur schwer korrigieren. Gleichzeitig erzwang das technische Zeichnen eine Beschränkung auf sehr einfache Formen. Im Vergleich zu den heutigen CAD-Programmen, erzählte Roland Ullmann, hätte das technische Zeichnen wenige formale Möglichkeiten geboten. Komplexe Geometrien ließen sich nur mit höchster Mühe zeichnerisch abbilden, und sie mussten stets auch noch in ein handgemachtes Modell übersetzt werden. Ob eine Zeichnung der ,Realität‛ standhalten würde, musste sich in der Werkstatt beweisen. Roland Ullmann entwickelte viele seiner Ideen in der Werkstatt und nicht am Reißbrett.
Dies zeigt: Noch wichtiger als die zeichnerische Entwicklung der Entwürfe waren für die Designer bei Braun Modelle, auch wenn man Design als Begriff im Alltag meist mit der Tätigkeit des Zeichnens verbindet. Davon zeugt auch die umfangreiche Sammlung von Braun-Modellen, die im MAK in Frankfurt. Diese Sammlung umfasst Modelle für Rasierapparate ebenso wie größere Volumenmodelle von Kaffeemaschinen oder Radiogeräten. Manche Modelle sind vom späteren Produkt kaum noch zu unterscheiden, andere muten skizzenhaft und vorläufig an. Als dreidimensionale, haptisch erfahrbare Objekte bildeten sie das Zentrum des Designprozesses bei Braun, weil sie dem späteren Produkt viel näher waren als die vergleichsweise abstrakten technischen Zeichnungen.
Der Modellbau bei Braun war geprägt von Tüftelei und der Arbeit am technischen Detail. Die aufwändige Herstellung der Modelle erforderte stets den Einsatz verschiedenster Techniken, wie Roland Ullmann betont: „Wir haben mit allen möglichen Mitteln Modelle gebaut. Zu der Zeit gab es noch diesen Modellschaum nicht, da hat man Holz oder Plexiglas, das es damals schon gab, genommen, Plexiglas für die präziseren Sachen. Auch für die High-End Modelle wurde immer Plexiglas genommen, oder auch mit Metall kombiniert.“ Dabei wurden fertige Teile aus der Produktion verwendet und mit den Plexiglasteilen verbunden. Die Modelle wurden mit Grundierung und Lack so gründlich nachbearbeitet, dass sie kaum noch von fertigen Produkten zu unterscheiden waren (siehe Abb. 1).
*** Hier Abb. 1 einfügen
Abb.1: Aus Plexiglas, fertigen Teilen und Metall zusammengesetztes Modell eines Rasierapparates, Anfang 1980er Jahre. Foto: MAK Frankfurt, Annika Frye.
Neben solchen sehr ausgereiften Prototypen gab es jedoch auch vorläufige Studien, die dazu dienten, einen Mechanismus, ein technisches Detail oder nur die äußere Form weiterzuentwickeln (siehe Abb. 2 und 3). Die groben Formstudien und Volumenmodelle, die zunächst aus Holz und später aus Modellbauschaum, dem sogenannten Ureol, gefertigt wurden, tragen viele Spuren der Arbeitsprozesse bei Braun. So zeichnete man direkt auf den Modellen, um Änderungen hervorzuheben: Auf dem Holzmodell eines Rasierapparates in Abbildung zwei wurden mit einem Faserstift Griffrillen aufgezeichnet. Diese Rillen bilden beim späteren Produkt, dem Sixtant 4004 von 1979 ein grafisches Muster. Auch wurden anhand der Zeichnung auf dem Modell die Größe und die Form des Rasierkopfes bestimmt. Schließlich wurde – was kaum zu sehen ist – das Braun-Logo mit Bleistift ergänzt. Auch auf dem Modell in Abbildung drei wurde gezeichnet. Es besteht aus zwei Teilen, die zusammengefügt wurden. Der obere Teil sollte später als Scherkopf dienen, der auf den Rasierapparat gesteckt wird. Dort, wo sich der obere und der untere Teil des Apparats verbinden, wurde eine Art Schließe aufgezeichnet.
*** Hier Abb. 2 einfügen
Abb. 2: Griffstudie des Braun-Designers Roland Ullman, Mitte der 1970er Jahre, Vorstudie für den Sixtant 4004. Auf dem Modell wurde direkt gezeichnet. Mit einem Faserstift wurden wurden Griffrillen angedeutet und mit Bleistift das Braun-Logo angedeutet. Dieses Modell befindet sich in der Modellsammlung des Museums für angewandte Kunst in Frankfurt. Foto: MAK Frankfurt, Annika Frye.
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Abb. 3: Studie für einen Rasierapparat des Designers Roland Ullman, Mitte der 1970er Jahre, aus dem Archiv des MAK Frankfurt am Main. Foto: MAK Frankfurt, Annika Frye.
Auf diese Weise konnten mehrere Ebenen des Entwurfs in einem Objekt zusammengeführt werden. Einerseits konnte die Form und Haptik des Rasierapparates bestimmt werden. Andererseits konnte die Produktgrafik entwickelt werden, es konnten Knöpfe und andere zusätzliche Bauteile hinzugefügt werden. Formentscheidungen konnten direkt auf den Modellen vermerkt werden, und ihre Konsequenz konnte sogleich am Modell selbst überprüft werden. Die beiden Darstellungsmedien (Zeichnung und Holzmodell) werden hier in produktiver Weise kombiniert – in der Kombination zweier Darstellungstechniken, liegt – so könnte man sagen – ein innovatives Potential.
Das Zeichnen auf Modellen ist nicht nur ein Weg, Entscheidungen zu fixieren. Es dient auch der Entwicklung von Ideen. Das Zeichnen auf den Modellen verschafft dem Gestalter zusätzliche Erkenntnisse über sein Objekt: Eine Kurve läuft plötzlich um das Objekt herum, anstatt dass sie sich, wie noch in der Skizze, immer nur in der Zweidimensionalität, gerade über die Fläche zieht. Die Abstraktionsleistung, die man normalerweise brauchte; um die Informationen, die die Zeichnung alleine und das Modell für sich enthalten, zu imaginieren, fällt weg.
Die Modelle – und mit ihnen die Entwürfe – wurden in der Werkstatt und nicht am Reißbrett entwickelt. Die Modelle wurden wie Werkzeuge eingesetzt. Obgleich sie als dreidimensionale, haptisch erfahrbare Objekte zuweilen von den fertigen Produkten kaum noch zu unterscheiden waren, betrachteten die Designer sie dabei stets als diskutable, immer noch zu verbessernde Artefakte. Um diesen prozesshaften Charakter der Modelle hervorzuheben, nannte man die Modelle auch ‚dreidimensionale Skizzen‛. Wie die Designjournalistin Sophie Lovell bemerkt, wurde dieser Begriff von Dieter Rams geprägt.[14] Sie führt aus: „Die Modelle entwickelten sich schrittweise von groben Formexperimenten zu sehr detaillierten Prototypen, die den anderen Abteilungen vorgestellt wurden, bevor sie in die Produktion gingen. Die Einzelheiten des Produkte wurden zudem in technischen Zeichnungen definiert. […] Computer spielten während dieser Zeit kaum eine Rolle.“[15] Die skizzenhaften Handmodelle sind typisch für die Designprozesse der vordigitalen Zeit. An dieser Stelle kann man also bereits resümieren, dass der Entwurfsprozess bei Braun um Modelle kreiste. Zwar mag das Entwerfen von Hand aus heutiger Sicht mühsam erscheinen. Aber die Verbindung der verschiedenen handwerklichen und gestalterischen Techniken beim Modellbau waren der einzige Weg, ein Produkt überhaupt entwickeln zu können.
Dass die Modelle hier eine so wichtige Rolle als Entwurfsverfahren spielten, hat mit der gesamten Struktur von Designprozessen zu tun. Einen Designprozess durchzuführen bedeutet, Darstellungen eines Entwurfs herzustellen, den es noch nicht gibt.[16] Entwerfen ist zukunftsgerichtetes Tun. Weil das konkrete Designprodukt erst am Ende des Prozesses steht, entwickelt sich der Entwurf anhand von vorläufigen Bildern und Modellen.
Der Werkzeugcharakter des Modells ergibt sich dabei aus den besonderen epistemischen Qualitäten, die ein Modell in Bezug auf den zukünftigen Entwurf hat.[17] Für den Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger nehmen Modelle eine „Mittlerrolle“ zwischen dem Gegenstand, der noch zu entwickeln ist, und seiner technischen Umsetzung ein.[18] Denn das, was noch entworfen werden muss, kann nur entlang vorläufiger Darstellungen näherungsweise dargestellt und immer weiter verbessert werden. Der Entwurf wird aus einem Gefüge von Modellen aus unterschiedlichsten Materialien „herausprozessiert“.[19]
Die Modelle sorgen nicht nur dafür, dass der Entwurf in seiner Materialität, Haptik und Form anschaulich wird. Sie haben nicht nur die Funktion eines reinen Abbildes, sie produzieren das Design quasi mit.[20] Sie scheinen das Design zu beeinflussen – etwa durch unvorhersehbare technische Zwischenfälle im Verlauf ihrer Produktion, durch materielle Eigenheiten, die erst in der Werkstatt zutage treten, oder durch unbeabsichtigte Formentscheidungen der Entwerfer. Der Kunsthistoriker Reinhard Wendler betont das „aktive Potenzial“ des Modells, um den Anteil des Modells am Entwurf zu verdeutlichen.. Er spricht den Modellen einen „Eigensinn“ zu, von dem selbst derjenige, der das Modell angefertigt hat, überrascht werden kann.[21]
Der Designer, so kann man es zusammenfassen, befindet sich dann in einem ständigen Dialog mit den Materialien seines Entwurfs.[22] Dies hatte auch Folgen für die Interaktion zwischen Designern, Ingenieuren, Handwerker und Technikern bei Braun. Sie alle mussten eng zusammenarbeiten, damit aus einer schnellen Skizze schließlich ein Produkt wurde. Bei Braun war die Modellbauwerkstatt daher schon räumlich als Teil der Designabteilung vorgesehen (siehe Abb. 4). Die Abteilung war – anders als man es vermuten würde – verhältnismäßig klein, wie Roland Ullmann betonte. „Wir waren zu der Zeit unter zwanzig Leute. Die Hälfte war Atelier und die andere Hälfte Werkstatt. Von den Designern waren ein drittel Grafiker, und es blieben sechs Designer, und der Siebte war Dieter Rams. Größer war die ganze Abteilung nicht.“ Dass die Modellbauabteilung die Hälfte des Ganzen Raumes einnahm, zeigt, welche Bedeutung der Werkstatt zugemessen wurde. Es kam darauf an, dass die Produkte in einer ständigen Wechselwirkung von Entwurf und Produktion entwickelt werden konnten – ohne dass man gleich in ein anderes Gebäude gehen musste.
*** Hier Abb. 4 einfügen
Abb. 4.: Grundriss der Braun-Designabteilung (die Modellbauwerkstatt ist oben rechts) erstellt als Abschiedsgeschenk für Dieter Rams von seinem Team (1995). Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Klaus Klemp, MAK Frankfurt.
Bei dem Grundriss der Designabteilung handelt es jedoch nicht, wie man vermuten könnte, um ein offizielles Dokument, das der Planung des Gebäudes diente. Die Braun-Designer und Modellmacher ließen den Grundriss ihrer Abteilung vielmehr als Abschiedsgeschenk für Dieter Rams anfertigen, als dieser Braun 1995 verließ. Und so sind in der Abbildung unten die Namen der Designer vermerkt, sowie ihre jeweiligen Arbeitsplätze. Für sie symbolisierte die Darstellung des Raumes, in dem sie arbeiteten, mehr noch als die Produkte ihre gemeinsame Zusammenarbeit. Ihnen war wichtig, zu zeigen, dass ihr gemeinsames Können das Braun-Design ausmachte und nicht die Arbeit einer einzelnen Person.
Man kann den Grundriss in Abbildung drei nun mit Blick auf die Produkte und Prozesse des Braun-Designs in eine ähnliche Grafik übersetzen, wie sie sich auch in Bruno Latours und Steve Woolgars Laboratory Life findet. Latour und Woolgar haben in ihrer berühmten Laborstudie Interaktionsprozesse im Laboratorium von Roger Guillemin im Salk Institute in Kalifornien rekonstruiert, und dabei gezeigt, dass insbesondere die räumliche Anordnung der Geräte und Schreibtische im Laboratorium Zusammenarbeitsprozesse beeinflusst, Hierarchien verdeutlicht und schließlich auch Einfluss auf die Forschungsergebnisse hat. Die Grafik bei Latour und Woolgar zeigt einerseits den Grundriss und damit den Raum des Labors. Andererseits stellen sie anhand von Pfeilen einen einen Zusammenhang her zwischen dem Raum, seinem Input (in Form von Materialien, Informationen, Substanzen) und seinen Produkten (in Form von wissenschaftlichen Fachartikeln).[23] Anhand des Grundrisses des Laboratoriums zeigen Latour und Woolgar, dass die (materiellen) Substanzen eine Reihe von Transformationsprozessen durchlaufen, um zu einem Produkt – dem veröffentlichen wissenschaftlichen Paper – zu werden, ganz ähnlich wie die Ideen in der Braun-Designabteilung eine Reihe von Transformationsprozessen durchlaufen müssen, damit sie zu einem seriell produzierbaren Produkt – dem „Output“ der Designabteilung werden.
Diese Transformationsprozesse sind von sozialer Natur, die jedoch, wie zum Beispiel Roland Ullmann erklärt, oftmals vergessen wird: „Neben dem ganzen Können an Produktentwicklung ist es für den Designer wichtig, Einfühlungsvermögen in andere zu haben. Man kann seine Ideen zwar alleine entwickeln, beim nächsten Schritt aber braucht man Partner. Ich habe immer sehr engen Kontakt mit den Laboringenieuren gehalten. Im Unternehmen müssen Sie ihre Arbeit genauso verkaufen wie als Freischaffender.“ Auch für Latour und Woolgar sind es weniger die vermeintlich objektiven Fakten, oder der geniale Einfall, die das wissenschaftliche Ergebnis beeinflussen. Sie werden vielmehr in komplizierten Zusammenarbeitsprozessen sozial konstruiert.[24] Sie sind Gegenstand von Austauschprozessen zwischen Wissenschaftlern, die ihre Ideen in bestimmter Weise vermarkten müssen.[25]
In ihrer Zusammenarbeit realisierten die Braun-Mitarbeiter das, was heute mit dem Begriff „Transdiziplinarität“ beschrieben wird. Die Designer und Modellmacher unterliefen stets die Grenzen ihrer eigenen Disziplin. Was in Bezug auf die industrielle Produktion eine Notwendigkeit war – die Trennung von Entwurf und Realisierung – war damit für den Designprozess selbst eher unproduktiv. So schreibt der Designhistoriker Rudolf Schönwandt „Auf der einen Seite ist […] Arbeitsteilung und Spezialisierung zweifellos zweckmäßig. Auf der anderen Seite ist er aber auch problematisch. Denn das eigentliche Ziel der ganzen Bemühung ist schliesslich nicht, eine Menge optimaler Einzellösungen zu realisieren – sondern ein neues Produkt, in dem alle Einzellösungen, Einzelleistungen und Einzelelemente zu einer überzeugenden Einheit integriert sind.“ [26]
Digitalisierung des Braun-Designprozesses
In das Zusammenspiel von Material und Konzept, das diese Zusammenarbeit prägte, trat in den 1960er Jahren das Computer Aided Design (CAD). CAD-Programme verlagern das Zeichnen und das Modellieren in den digitalen Raum. Die Veränderungen nahmen ihren Ausgangspunkt beim MIT Media Lab sowie in der Automobilindustrie: Als erstes CAD-Programm gilt Ivan Sutherlands 1963 am MIT entworfenes Programm SKETCHPAD. Damit konnten zunächst einfache Formen auf einem Bildschirm gezeichnet werden. Ebenfalls zu Beginn der 1960er Jahre begann Pierre Bézier bei Renault an dem UNISURF-CAD-Modellierungstool für die Automobilbranche zu arbeiten.[27] Ziemlich bald wurden diese Prozesse auch parametrisiert, das heißt, die Veränderung eines Parameters in einem Programm bewirkte eine neue Variante einer Zeichnung. Diese generativen Methoden erprobte insbesondere Georg Nees, ein Pionier der Computerkunst, 1965 auf einem Zuse-Computer.[28]
CAD-Techniken waren auch bereits an der Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG) in der Diskussion, deren Designhaltung das Vorbild für die Designabteilung bei Braun bildete. Neben ihrer minimalistischen Formensprache war die HfG Ulm für ihre strengen Planungsmethoden bekannt geworden. Sie war dabei von den Think Tanks der 1950er Jahre und von der Kybernetik beeinflusst. Als Mitakteur im sogenannten ‚Design Methods Movement‘ hatte die HfG Ulm sich an der Entwicklung von wissenschaftlich fundierten Methoden für den Designprozess beteiligt.[29] Ziel war, das Entwerfen zu rationalisieren und eine strukturierte Gestaltungsmethodik als Gegenmodell zum künstlerisch-handwerklichen Vorgehen zu entwickeln, wie es das Bauhaus gelehrt hatte. Die Idee der Rationalisierung des Designprozesses hatte jedoch ein grundsätzliches Problem: Ein abstrakter, systematischer Analyseprozess verhalf den Designern nicht zu einer konkreten, gestalteten Form.
Am meisten sichtbar wird dies etwa an der Methode von Christopher Alexander, die dieser in den Notes on the Synthesis of Form diskutierte. Für Alexander erforderten Designprozesse vor allem deshalb ein analytisches Vorgehen, weil sie derart komplex geworden waren, dass die Designer sie ohne systematisches und analytisches Arbeiten nicht lösen könnten: „Today more and more design problems are reaching insoluble levels of complexity. This is true for moon bases, factories and radio receivers, whose complexity is internal, but even of villages and teakettles. In spite of their superficial simplicity, even these problems have a background of needs and activities which is becoming too complex to grasp intuitively.“[30] Alexander schlug daher vor, die Designprobleme in einem hierarchischen Baumdiagramm in Subprobleme zu unterteilen, und diese dann einzeln zu lösen. Mittels dieser besonderen Darstellungstechnik sollten die Designer den Überblick über die Anforderungen an ihren Entwurf zurückgewinnen. Sie müssten sich nicht mehr mit vorläufigen Lösungen abfinden, sondern könnten Designprobleme vom Teekessel bis zur Mondbasis strukturiert angehen, und dabei alle Aspekte und Anforderungen berücksichtigen. Alexanders Designmethode verblieb jedoch auf der Ebene der Problembeschreibung. Die Frage, wie aus der Kaskade von einzelnen Lösungen und Ansätzen ein kohärentes Ganzes – der Entwurf – gewonnen werden sollte, blieb unbeantwortet. Und so kamen Methoden wie das von Alexander beschriebene analytische Vorgehen beim konkreten Entwerfen nicht zum Einsatz, bei Braun wurden Entwürfe anhand von Modellen und nicht in einem analytischen Prozess entwickelt.
Gui Bonsiepe, Dozent an der HfG Ulm, kritisierte Alexanders Methode für das Fehlen einer Lösung für die Übersetzung der Analyse in eine Form.[31] Eine Antwort auf die Frage, wie Alexanders Methode um das Element der Formgenerierung erweitert werden könnte, erhoffte sich Bonsiepe jedoch von den CAD-Programmen, die damals freilich noch in einem sehr frühen Entwicklungsstadium steckten. Die Komplexität der Designprobleme könne anhand dieser Programme in neue Formen übertragen werden: „Formale Übergänge, Flächenmodulationen, formale Varianten, Vergrößerungen, Verkleinerungen, Vielfalt von Ansichten, Maßkoordinationen könnten im Handumdrehen mittels eigens dafür entwickelter Computerprogramme visualisiert werden.“[32] Mit den bisherigen Mitteln ließen sich diese schlichtweg nicht darstellen.
Konnte dieses Versprechen in der Praxis eingelöst werden? Als die CAD-Programme tatsächlich verfügbar wurden, traten mit den neuen Möglichkeiten auch neue Einschränkungen auf. Die Erwartungen, die an die CAD- Programme als Planungstools herangetragen wurden, konnten zunächst nicht eingelöst werden. Denn die Zeichnung auf dem Bildschirm unterschied sich in ihrer mitunter starken Abstraktion letztlich stark vom materiellen Modell. Sibylle Krämer bemerkt, dass das wesentlichste Merkmal der Digitalisierung die „Entmaterialisierung“ war: „,Entmaterialisierung’ […] meint: Die digitalisierten Daten können in beliebige Medienformate übertragen werden. Diese so faszinierende wie folgenreiche Intermedialität des Computers beruht gerade darauf, dass die Strukturen und Funktionen von Medien durch Digitalisierung von der ihnen im lebenspraktischen Zusammenhang stets zukommenden Materialität und Körperlichkeit abgelöst werden können.“[33]
Dieses Problem stellte sich auch in der Arbeit Roland Ullmanns. Vorher vor allem Techniker und Tüftler, der in der Werkstatt experimentierte, wurde er nun zum Leiter des CAD. Er musste die Anpassung an die neuen Techniken koordinieren. Dabei betraf die erste Welle der Digitalisierung bei Braun zunächst vor allem Techniken des Zeichnens. Insbesondere das technische Zeichnen am Reißbrett und die sogenannten ‚Handrenderings‘ – realistische Zeichnungen mit speziellen Filzstiften – wurden digitalisiert. „Der erste Step war ja noch eine zweidimensionale Software. Also das Ersetzen der Tusche und des Zeichenbrettes mit dem Bildschirm.“ Als größtes Problem erschienen Roland Ullmann dabei die besonderen medialen Eigenheiten der digitalen Darstellungen. Sie unterschieden sich aufgrund ihrer Immaterialität vom konkreten Modell oder der Technischen Zeichnung mitunter sehr stark. So gab es es im CAD-Programm zum Beispiel keinen Maßstab mehr. Es konnte unendlich weit in das Modell hinein- und herausgezoomt werden, der Übergang zwischen Vergrößerung und Verkleinerung war fließend. „Ein Rasierapparat wird auf dem Bildschirm nicht im Maßstab eins zu eins dargestellt, sondern in zwanzig zu eins. Wir mussten daher das Verständnis für die 3D-Programme trainieren. Das sind so schwer zu beherrschende Programme, sie müssen permanent Schulungen machen, wie ein Fußballer trainieren.“ Als problematisch erwies sich auch, dass die Bildschirme – verglichen mit den riesigen Zeichenbrettern – sehr klein waren: „Wir hatten nur noch einen kleinen Bildschirm, während wir vorher auf dem großen Zeichenbrett den Überblick hatten. Man hat nur noch in Ausschnitten und an Details gearbeitet. Die Arbeit im CAD-Programm erwies sich daher als zeitraubend und mühsam. „Das alles war erstmal viel zu zeitkonsumierend. In so einer Firma gibt es ganz klare Terminvorgaben. Da sind sie als Designer nicht in der Lage gewesen, anhand des CAD-Programms innerhalb von sechs Wochen eine Idee zu visualisieren. Wie gesagt, heute, 20 Jahre später, gibt es Designer, die das beherrschen […].“
Für das Wechselspiel von Modellierung und Konzeption, das den Designprozess bisher ausgemacht hatte, bedeutete das CAD einen Bruch. Richard Sennett etwa beklagt, dass Modelle aus dem CAD-Programm in keinem Zusammenhang zum ‚echten‘, materiellen Artefakt stehen. Er schreibt: „Was auf dem Bildschirm erscheint, ist auf eine Weise kohärent und vereinheitlicht, wie dies beim Betrachten eines realen Objekts unmöglich wäre.“[34] Der auf die Simulation, auf reine Daten reduzierte Designprozess, in dem nur noch digitale und keine ‚realen‘ Modelle mehr gebaut werden, verliert seine bisherige Struktur.[35] Das Hin und Her zwischen Modellen und Zeichnungen verschwindet, weil der Prozess sich ganz in den digitalen Raum verlagert. CAD-Modelle müssen noch einen komplizierten Transformationsprozess durchlaufen, der über technische Zeichnungen, Modelle und Prototypen erst nach langer Zeit und Mühe zu einem konkreten, serienreifen Produkt führt.
Obwohl Roland Ullmann die CAD-Programme nach und nach immer besser kennenlernte, kehrte er immer wieder zurück in die Werkstatt. Für ihn konnte das CAD-Konstruktionsprogramm das Arbeiten in der Werkstatt nicht vollständig ersetzen. „Oftmals ist man schneller bei einem Modell. Weil man die technische Konsequenz schneller visualisiert – weil man sofort eine Reaktion hat. Man sieht sofort, wo man steht.“ Anhand der Modelle konnte Ullmann die Form und Funktionsweise der Objekte, die er entwarf, in einer Art und Weise erkunden, wie dies nicht durch Berechnungen oder Computermodelle geschehen konnte. Denn diese, erklärt Ullmann, hatten so viele Restriktionen und setzten eine so gute Kenntnis von dem, was man zeichnen will voraus, dass der Entwerfer im CAD-Programm nicht entwirft, sondern konstruiert. Im Arbeitsprozess bei Braun konnte das Entwerfen nicht, wie es die Idee der Planungstheoretiker an der HfG Ulm war, ins Digitale verlagert werden.
Stattdessen bildete sich neben den Designern eine neue Berufsgruppe heraus. Weil die Bedienung der Programme aufwändig und schwer zu erlernen war, entstand der neue Beruf des CAD-Konstrukteurs, der zwischen der Arbeit der Designer und den Handwerkern in der Werkstatt vermittelte: „Wir haben schließlich eine ganz klare Trennung zwischen dem eigentlichen Produktdesigner und der neuen Disziplin CAD vorgenommen. Wir hatten vier bis fünf CAD-Konstrukteure. Der Produktdesigner arbeitet ganz anders, weil er ‚emotionalisierte‘ Vorgehensweisen zulässt, während der Konstrukteur sich nicht freimachen kann, wirklich ‚kreativ‘ zu arbeiten. Weil der Arbeitsanspruch am Computer so hoch ist, dass da einfach keine Luft mehr bleibt. Also wir haben das nicht Design genannt.“ Das Entwerfen im CAD-Programm hatte also nicht nur Folgen für das Verhältnis von Modell und Konzept. Es wirkte sich auch auf die Zusammenarbeitsprozesse bei Braun aus. So wurde mit den CAD-Konstrukteuren eine zweite Instanz zwischen die Designer im Atelier und die Handwerker und Techniker in der Werkstatt geschaltet.
Während CAD-Programme als Zeichenwerkzeuge immer wichtiger wurden, ersetzten digitale Visualisierungen nach und nach auch die Modelle und Prototypen. Insbesondere Fotografien, die vormals von Modellen oder von sehr detaillierten Prototypen entstanden, schienen nun nicht mehr notwendig zu sein. Stattdessen fertigten die Designer Renderings an. Renderings sind photorealistische Darstellungen von Produkten oder Architekturen, die auf CAD-Modellen basieren, sie zeigen dem Betrachter die Oberfläche eines Produkts. Dem CAD-Modell werden dafür per Mausklick Material, Farbe, Struktur usw. hinzugefügt. Jede Entscheidung kann auch wieder revidiert werden. Weil man anhand der Renderings ein Produkt schon simulieren konnte, mutete die mühsame Modellbastelei in der Werkstatt überflüssig an. Aber die haptischen Qualitäten und die Vorläufigkeit, die den Modellen der Designer zueigen ist, fehlen dem Rendering.
Innerhalb des Designprozesses nehmen Renderings eine merkwürdige Rolle ein, weil sie das noch nicht produzierte Produkt zwar sehr genau abbilden, aber gleichzeitig nicht, wie eine Fotografie auf ein tatsächliches Modell oder Produkt verweisen. Der Architekturhistoriker Antoine Picon spricht in Bezug auf diese Darstellungen von einer neuen Materialität, die zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten lokalisiert ist: „The new materiality is located at the intersection of two seemingly opposed categories, the totally abstract, based on signals and codes and the ultra-concrete, involving an acute and almost pathological perception of material phenomena and properties.“[36]
Für Antoine Picon müssen diese Computerdarstellungen jedoch nicht per se problematisch sein. Problematisch ist vielmehr ein falscher Umgang mit ihnen. Stehen Computerdarstellungen nicht mehr in einer Wechselwirkung zum Modell oder Materialexperiment, verlieren sie ihre Relevanz. „Computer based design often appears to neglect the material dimension of architecture, its intimate relation with properties like weight, thrust, and resistance. On a computer screen, forms seem to float freely, without constraint other than those imparted by the program and by the designer’s imagination.“[37] Die konzeptionelle und die konkrete, materielle Dimension des Designs scheinen dann nicht mehr ineinanderzugreifen, und der Entwurfsprozess wird auf die bloße Produktion von Abbildungen reduziert.
Im Rechner ließen sich nun künstliche, von konkreten Materialien abgekoppelte Simulationen erschaffen, die den tatsächlichen Produkten nur vordergründig nahe kamen. Diese Simulationen konnten jedoch so überzeugend wirken, dass auch die Designer selbst davon beeindruckt waren und schließlich vor allem Simulationen produzierten. Damit verlagerte sich der Designprozess beinahe ausschließlich auf die zeichnerische Darstellung, beziehungsweise auf die zweidimensionale Darstellung auf dem Computerbildschirm. So schienen die epistemischen Qualitäten des Modellierens verlorenzugehen. Die Designer waren dafür zuständig, Visualisierungen herzustellen, und die Konstrukteure lieferten Produktionsdaten. Diese wiederum wurden von den Modelleuren in Modelle übersetzt. Die Arbeit der Designer fand daher ebenso am Bildschirm statt wie die der Konstrukteure. Aber nur die Modellmacher arbeiteten mit dem Material, sie waren für die Umsetzung zuständig.
Die Designer entfernten sich mit den Computerdarstellungen also immer weiter vom konkreten Produkt. Dies, so merkte Bruno Latour auf einem Vortrag vor der Design History Society in Cornwall 2007 an, sei ein strukturelles Problem von Designproduktion. „[…] 50 Jahre nach der Entwicklung von CAD-Programmen [sind wir] noch immer ziemlich unfähig, das, was ein Ding in all seiner Komplexität ist, an einem Ort zusammenzuziehen, zusammenzuzeichnen, zu simulieren, zu materialisieren, annähernd wiederzugeben, vollständig im originalgetreuen Maßstab zu modellieren.“[38]Einerseits sind Designer in der Lage, Objekte in allen Hinsichten zu visualisieren. Andererseits können sie – trotz aller handwerklichen und technischen Virtuosität, ein Artefakt niemals ganz darstellen. Jede Visualisierung, insbesondere eine CAD-Visualisierung, hat gegenüber dem ‚realen‘ Objekt in all seiner Komplexität Unzulänglichkeiten.
Der ‚Material Turn‘ in der Designproduktion
Gleichwohl wäre es zu kurz gefasst, die Programme für ihren Mangel an konkreter Materialität nur zu kritisieren. Das Verhältnis des Designs zu den CAD- Visualisierungen ist vielmehr ambivalent. Denn CAD-Programme bedeuteten, richtig eingesetzt, eine Arbeitserleichterung: wer hätte schon zurückkehren wollen zum Zeichnen am Reißbrett? Dies hebt auch Roland Ullmann hervor. Für ihn war das Zeichnen am Reißbrett eine mühevolle Arbeit. Die Fehler beim Zeichnen mit der Tuschefeder konnten die Arbeit einiger Stunden zunichtemachen, sie mussten mithilfe einer Rasierklinge entfernt werden. „Wir haben richtig, noch mit Tusche gezeichnet. Die Fehler mussten mit der Rasierklinge gekratzt werden.“
Die Programme eröffneten dem Design neue Möglichkeiten der Darstellung. Mit ihnen waren große Hoffnungen verbunden, wie die Diskussion um das CAD im Design Methods Movement zeigt.
Denn die CAD-Visualisierungstools bildeten zunächst nur eine Vorstufe für den zweiten Schritt der Digitalisierung des Entwerfens. Die zweite Welle war die Digitalisierung nicht nur des Zeichnens und der Daten, sondern auch der Verarbeitung von Material. So bemerkt zum Beispiel der Designtheoretiker Bernhard E. Bürdek zu Beginn der 1990er Jahre, dass einer ‚Tendenz zur Immaterialisierung‘ des Designs durch die damals gerade erst entdeckte ‚Sterolitografie‘ entgegengewirkt werden könne. Es handelt sich dabei um ein additives Produktionsverfahren, bei dem ein flüssiger Kunststoff mit UV-Licht schichtweise ausgehärtet wird, sodass ein Modell entsteht.[39] Charles Hull, Gründer der Firma 3D-Systems, hatte die Stereolitografie 1984 als erstes 3D-Druck-Verfahren entwickelt. Sie löste gegenüber der von Computersimulationen geprägten Zeit einen ‚Material Turn‘ aus.
Während zur Zeit vor allem 3D-Drucker als neues Produktionswerkzeug diskutiert werden, so setzte man bei Braun jedoch zunächst CNC-Techniken ein, weil sie sehr genaue Ergebnisse lieferten. CNC-Maschinen nutzen die CAD-Daten und übertragen sie in ein Material. Anhand von CNC-Fräsen konnten auch funktionale Bauteile hergestellt werden, es konnten Bauteile aus Aluminium oder anderen Werkstoffen gefräst werden (siehe Abb. 5). Anders als der 3D-Druck funktionieren diese Maschinen nicht additiv, sondern vielmehr subtraktiv. Hier bildet – wie auch beim 3D-Druck– ein CAD-Modell den Ausgangspunkt. Es wird anhand eines Slicerprogramms in Schichten unterteilt. Der Slicer ist die Schnittstelle zwischen dem Computermodell und der Maschine.[40] Hier werden die Parameter für den Produktionsprozess bestimmt. Das sind zum Beispiel die Werkzeuge, die die Fräse nutzt. Im Slicer lassen sich die Wege des Werkzeugs genau vorausberechnen. Auch lässt sich durch die Einteilung des Modells in Schichten die Genauigkeit der Oberfläche und damit die ‚Auflösung‘ des Werkstücks bestimmen. Der Slicer berechnet dann den sogenannten g.code, einen Maschinencode, der die für den Fräsprozess notwendigen Informationen, und zwar die Koordinaten jedes einzelnen Fräsweges, enthält. Es handelt sich dabei um eine einfache Textdatei mit einer schier endlosen Liste von Befehlen: die Welt des Computer Aided Manufacturing (CAM) ist eingeteilt in x,y und z. Die Fräse ist daher ein Gestell mit drei bis fünf beweglichen Achsen, die jeweils ihre Entsprechung im kartesischen Raum des CAD-Programms haben. Entlang dieser Achsen bewegt sich, gesteuert durch den g.code, der Fräskopf, der das Material Schicht für Schicht und Linie für Linie abträgt. Sukzessive schält die Fräse ein Modell aus dem Material. Dem halbfertig gefrästen Modell eines Braun-Rasierapparates in Abbildung fünf ist dieser Fertigungsprozess noch sehr genau anzusehen. Es besteht aus Ureol, einem besonders festen Modellbauschaum, der als Holzersatz fungiert und leicht zu bearbeiten ist, weil er keine „Richtung“ hat und eine gleichmäßige Dichte aufweist.
*** Hier Abb. 5 einfügen
Abb. 5: Halbfertig gefrästes Modell eines Rasierapparates von Braun, Modell aus dem Archiv des MAK Frankfurt. Vermutlich 1999. Foto: MAK Frankfurt, Annika Frye.
Diese Verbindungen von digitalem Entwerfen und Materialisierung erweisen sich für den Designprozess als äußerst folgenreich. Vormals stand zwischen dem Entwurf des Designers und dem ‚realen‘ Produkt ein komplizierter Übersetzungsprozess mit Renderings, technischen Zeichnungen, Pappmodellen und Schaumstoffmodellen. Nun kann der der Designer all diese Schritte überspringen. Für den Designprozess, der vor der Produktion liegt, bedeutet das Rapid Prototyping[41] einen Zugewinn an Freiheit und Anschaulichkeit gegenüber den CAD-Modellen im Rechner, der Übergang vom digitalen zum realen Modell vereinfacht sich. Die Pointe der digitalen Produktionsverfahren liegt darin, dass sie die Lücke zwischen Visualisierung und Artefakt wieder schließen. So kann ein digitales Modell ohne den Umweg einer technischen Zeichnung direkt materialisiert werden. Dies gleicht den Mangel an Austausch zwischen der Welt der digitalen Simulation und der Welt der konkreten Artefakte aus, beides verbindet sich, ohne dass dafür eine Regression in vordigitale Zeiten mit mühsamer Modellbastelei und Zeichnen am Reißbrett notwendig wäre. Das Rapid Prototyping gibt den Entwerfern die Möglichkeit der Anschaulichkeit von Modellen zurück.
Die vierte industrielle Revolution
Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, die digitalen Produktionsmethoden nur bis zu dem Punkt der ‚Rettung des Modells‘ zu verfolgen. Ich will an dieser Stelle zurückkehren zum Anfang meiner Argumentation. Das Rapid Prototyping ermöglicht dem Designer nicht nur eine Rückkehr zum Material. Auch rückt der Produktionsprozess immer näher an das Entwerfen heran. Die neue, digitalisierte Form des Produzierens entkoppelt das Designobjekt auch von seinem zentralen Produktionsort, weil sie dezentral und lokal geschieht. Es verändert sich das ganze Verhältnis von Entwurf und Produktion.
Bei den digitalen Produktionsmethoden fließen Entwurfs- und Produktionsprozess ineinander, weil kleinere Stückzahlen ab einem Exemplar realisierbar werden, jedes Modell ist dann quasi schon ein Produkt. Die Idee des Serienprodukts, die das Design seit der Moderne bestimmt hat, gerät dabei unter Druck. Insbesondere diese Veränderung auf Seiten der Artefakte spielt auch für die Idee einer vierten industriellen Revolution eine wichtige Rolle. Wird damit nicht nur der klassische Modellbau, sondern auch das klassische Industrial Design, wie es von der Designabteilung bei Braun vermutlich am meisten verkörpert wird, obsolet?
Als in den 2000er Jahren der erste 3D-Drucker in der Werkstatt bei Braun aufgestellt wurde, rief dies zunächst nicht die Designer, sondern die Modellbauer auf den Plan, die gegen den Drucker in ihrer Werkstatt protestierten. Sie fürchteten, dass die neue Technik ihre Arbeit überflüssig machte, waren sie doch Jahrzehntelang damit beschäftigt gewesen, die CAD-Daten der Designer in konkrete Artefakte zu verwandeln. Was aber hatten die Braun-Modelleure ausgerechnet gegen den 3D-Drucker? Warum jagte ihnen dieses Gerät Angst ein und warum ließ es sie um ihre Arbeitsplätze fürchten?
3D-Drucker basieren, anders als CNC-Fräsen, auf dem Hinzufügen von Material. Sie haben ebenfalls bewegliche Achsen, entlang derer sich ein Extruder hin und her bewegt, der Kunststoff schmilzt und auf eine Platte aufträgt. Flächen werden durch Schraffuren erzeugt, Schicht für Sicht entsteht so ein Artefakt, wobei Größe und Genauigkeit über die Dauer des Druckprozesses entscheiden. Vom Prinzip her handelt es sich quasi um eine digitalisierte Heißklebepistole. Dennoch ist diese Technik keinesfalls trivial. Weil es sich um digitalisierte Maschinen handelt, sind die Maschinen als Mitakteure besonderer Art zu bestimmen, da sie die Daten zur Produktion nicht nur übertragen, sondern auch materialisieren. Sie übertragen buchstäblich Dinge, ohne dass diese transportiert werden müssten.[42] Dies wird beim 3D-Druck – mehr noch als bei der CNC-Technik – besonders anschaulich, weil sich das Modell buchstäblich aus dem Nichts heraus im Bauraum des Druckers realisiert. Indem sich hier digitales und analoges Entwerfen verbindet – so die Annahme – vereinfacht sich zugleich auch der Designprozess.
In der „postindustriellen Produktion“[43] verändert sich das Zusammenspiel der verschiedenen Akteure – also der Designer, Ingenieure und Modelleuere, die am Designprozess beteiligt sind. Die Formgebung passiert dabei nicht mehr allein auf Seiten des Designs. Dabei werden neue Formen der Teilhabe möglich. Design stand stets auf der Seite der industriellen Massenproduktion, während der Laie weder Zugang zum Entwerfen noch Zugang zur Produktion hatte. Der Konsument hatte hier eine vor allem passive Rolle. Dieses Paradigma wird nun durch die Einführung digitalisierter Produktionsapparaturen durchkreuzt. Sie bewirken nicht nur einen Übergang vom digitalen zum materiellen Design, anhand dieser Techniken wird jeder potentiell zu einem Produzenten. Die Journalisten Holm Friebe und Thomas Ramge haben daher ein Ende der Massenproduktion postuliert und einen „Aufstand“ der Konsumenten ausgerufen, die sich aktiv gegen die Industrie wenden und nicht mehr konsumieren, sondern Dinge anhand von Schreibtisch-3D-Druckern selbst produzieren.[44]
Sofern im 3D-Drucker Kunststoff – das Material der industriellen Produktion schlechthin – verarbeitet wird, wird dieser oft als typisches Beispiel für eine postindustrielle Produktion herangezogen. Die Herstellung eines Kunststoffprodukts würde normalerweise einen ganzen Maschinenpark sowie die Herstellung von teueren Werkzeugen erfordern, die nur eine bestimmte finale Form hervorbringen. Dies rentiert sich erst in der Massenproduktion, und so kreiste der Designprozess seit der Moderne stets um einen bestimmten, fest umrissenen Entwurf. Die einstmals durch den beschränken Zugriff auf industrielle Produktionstechniken klar strukturierten Macht- und Wissensverhältnisse von Designern und Produzenten auf der einen Seite und Konsumenten auf der anderen Seite scheinen hier zur Disposition zu stehen. Wenn Konsumenten nun – etwa in FabLabs (Fabrication Laboratories) – Zugriff auf bislang exklusive Produktionsmittel erhalten, so werden sie damit, so der Schluss von Neil Gershenfield, dem Initiator der FabLab-Bewegung, gleichzeitig auch zu Entwerfern.[45] Und so richtet sich die Idee der postindustriellen Produktion gegen das klassische Konzept von Industrial Design.
Insbesondere die Makerbewegung versucht sich über die Idee des Selbermachens vom klassischen Design, wie es von Braun verkörpert wurde, abzuheben. Als Maker gilt jemand, der Gegenstände gleichzeitig entwirft, produziert und selbst benutzt. Schauplatz der Maker-Gestaltung ist beispielsweise das Thingiverse, eine Plattform mit Plänen für 3D-Druck-Artefakte im Netz, auf der beinahe jeder beliebige Gegenstand vom Kühlschrankgelenk bis zum Möbelstück als CAD-Datei frei verfügbar ist. Das Thingiverse wird damit gleichzeitig zu einem Archiv der postindustriellen Designartefakte. Jeder kann einen Beitrag zum Thingiverse leisten, Entwürfe je nach Gusto verändern und produzieren. Neuheit, Originalität und damit auch Autorschaft scheinen im Thingiverse keine zentralen Kriterien mehr zu sein.
Gleichwohl sind Design- und Makerkultur enger miteinander verwoben, als es die mediale Diskussion zur vierten industriellen Revolution, die vor allem auf ein ‚Design der Maker‘ in Abgrenzung vom ‚Design der Designer‘ fokussiert ist, nahelegt.[46] Historisch gesehen fußt die Idee der Demokratisierung des Entwerfens auf partizipatorischen Designansätzen aus den 1960er und 1970er Jahren, die im Anschluss an das Design Methods Movement formuliert wurden. So trat zum Beispiel der Architekturtheoretiker Charles Jencks in seinem Text „Adhocism. The Case for Improvisation“ dafür ein, dass Nutzer Produkte anhand gegebener Bausteine selbst entwickelten. Sie sollten über die Herstellung und gleichzeitige Ad hoc-Konzeption mittels Improvisation selbst zu Gestaltern werden. Digitale Werkzeuge sollten bei der Realisierung der Idee von Teilhabe helfen, sie sollten den Nutzern Zugriff auf die Formgebungsprozesse ermöglichen.[47]
Auch kann mit Blick auf die Designprozesse und insbesondere die Modellbaupraktiken keine so klare Linie zwischen industriellem und postindustriellem Design gezogen werden. Design, vor allem beim Modellbau in der Werkstatt funktioniert ähnlich wie die postindustrielle Produktion auf den Schreibtischen der Maker.
[1] Dies kann leicht am ‚Hype Cycle‛ des Gartner Instituts nachverfolgt werden. Das Gartner Institut analysiert Technologien und ihre Phasen der medialen Aufmerksamkeit. Für den 3D-Druck mit Schreibtischgeräten war diese 2014 am höchsten. Der Hype Cycle zum 3D-Druck von 2014 ist abrufbar unter: http://www.gartner.com/newsroom/id/2825417. Zu Makern und Nerds: xxx.
[2] Adocism…
[3] Curators Statement, Adhocracy-Website.
[4] Felix Stalder xxx
[5] Hierzu: Stalder: Kultur der Digitalität.
[6] Thilo Schwer: »zirkulär ….« Kunstforum
[7] Vgl. Mareis xxx
[8] Dies kann leicht am ‚Hype Cycle‛ des Gartner Instituts nachverfolgt werden. Das Gartner Institut analysiert Technologien und ihre Phasen der medialen Aufmerksamkeit. Für den 3D-Druck mit Schreibtischgeräten war diese 2014 am höchsten. Der Hype Cycle zum 3D-Druck von 2014 ist abrufbar unter: http://www.gartner.com/newsroom/id/2825417
[9] Chris Anderson, Makers. The New Industrial Revolution, New York 2012, S. 18.
[10] Ebd.
[11] Konstituierend für das Open Design ist die Zurückweisung der Prinzipien von Autorenschaft und Expertentum, die das Industriedesign geprägt hatten. Es geht dabei darum, alle Unterschiede zwischen Designern und Nutzern, auch auf der Ebene der Produktion, zu nivellieren. Im Open Design wurde, entgegen der Gestaltungsparadigmen der industriellen Moderne, die den Experten in den Vordergrund stellte, der Laie zur Leitfigur.
[12] Vgl. hierzu bes.: Klaus Klemp, Dieter Rams. Frühe Arbeiten, in: Klaus Klemp u. Keiko Ueki-Polet (Hg.): Less and More. The Design Ethos of Dieter Rams, Berlin 2009, S. 332.
[13] Das Interview mit Roland Ullmann habe ich am 09. 12. 2013 mit ihm geführt, es wird im Folgenden durch Anführungszeichen kenntlich gemacht.
[14] Sophie Lovell, Dieter Rams. So wenig Design wie möglich, Hamburg 2013, S. 236.
[15] Ebd.
[16] Vgl.: Susanne Hauser, Verfahren des Überschreitens. Entwerfen als Kulturtechnik, in: Sabine Ammon: u. Eva Maria Froschauer (Hg.), Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, München 2013. Mit dem Begriff Entwurf ist an dieser Stelle zunächst die Gesamtheit von Material, Form, Herstellungstechnik und Gebrauch eines Produkts gemeint.
[17] Vgl. hierzu auch Sabine Ammon, Entwerfen – Eine epistemische Praxis, in: Claudia Mareis u. Christof Windgätter (Hg.), Long Lost Friends. Wechselbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung, Zürich u. Berlin 2013.
[18] 2 „Zwischen epistemischen Dingen und technischen Bedingungen nimmt das, was wir gewöhnlich ein Modell nennen, eine Mittelstellung ein.“ Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinbiosynthese im Reagenzglas, Frankfurt a.M. 2006, S. 136.
[19] Ebd. S. 167.
[20] Modelle oder Simulationen sind in diesem Sinne keine unschuldigen Gegenstände, vielmehr müssen sie als Mitakteure im Prozess verstanden werden. Vgl. hierzu bes.: Reinhard Wendler, Das Modell. Zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2013.
[21] Ebd., S. 18.
[22] Vgl. Donald A. Schön, The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action, New York 1983, S. 101.
[23] Siehe Bruno Latour u. Steve Woolgar, Laboratory Life: The [social] Construction of Scientific Facts, Princeton 1986 (2013), S. 46–47.
[24] Vgl. ebd., bes. S. 40.
[25] Ebd., S. 191.
[26] Rudolf Schönwandt, Wie arbeitet Dieter Rams und sein Team bei Braun? In: François Burkhardt u. Inez Franksen (Hg.), Design. Dieter Rams, Berlin: Gerhardt 1980, S. 39.
[27] Pierre Bézier, The mathematical basis of the UNISURF CAD system, London 1986.
[28] Siehe hierzu bes.: Georg Nees, Generative Computergraphik, Berlin 2006 (1969).
[29] Vgl. Claudia Mareis, Design als Wissenskultur. Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, Bielefeld 2011, S. 25.
[30] Christopher Alexander, Notes on the Synthesis of Form, Cambridge (Mass.) 1994 (1964), S.3.
[31] Vgl.: Gui Bonsiepe, Arabesken der Rationalität. Anmerkungen zur Methodologie des Design / Arabesques of Rationality. Notes on the Methodology of Design, in: ulm. 19/20, 1967.
[32] Ebd., S.43.
[33] Sybille Krämer, Simulation und Erkenntnis. Über die Rolle computergenerierter Simulationen in den Wissenschaften, in: Nova Acta Leopoldina NF 110, Nr. 377, 2011, S. 313.
[34] Richard Sennett, Handwerk, Berlin 2009, S. 61.
[35] Ebd., S. 60.
[36] Antoine Picon, Digital Culture in Architecture. An Introduction for the Design Professions, Birkhäuser 2010, S. 157.
[37] Antoine Picon, Architecture and the virtual. Towards a new materiality, in: Praxis. Journal of Writing+Building, Nr. 6, 2004, S.114-121.
[38] Bruno Latour, Ein vorsichtiger Prometheus? Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk, in: Marc Jongen, Sjoerd van Tuinen u. Koenraad Hemelsoet (Hg.): Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, Paderborn 2009, S. 371.
[39] Bernhard E. Bürdek, Design. Geschichte, Theorie und Praxis der Produktgestaltung, Köln 1991, S. 333 f.
[40] Eigentlich handelt es sich um eine Verbindung mehrerer, hintereinandergeschalteter Schnittstellen. Gui Bonsiepe bestimmt eine Schnittstelle resp. ein Interface darüber, dass sich darin analoges und digitales verbinden: „[…] Interface zielt weiter als die duale Charakterisierung Materiell/Immateriell. Interface faßt das ihnen Gemeinsame. Interface gilt für den Entwurf eines Schraubenschlüssels genauso wie für die Gestaltung einer medizinischen Software […]“ Gui Bonsiepe, Interface. Design neu begreifen, Mannheim 1996, S. 20.
[41] Rapid Prototyping meint die Gesamtheit der digitalen Modellbauverfahren, also Lasercutting, CNC-Fräsen, 3D-Druck.
[42] Bruno Latour argumentiert in seinem Aufsatz „Drawing Things Together“, dass die Erfindung der Druckpresse der Mobilisierung von Daten diente und sie ohne Verfälschung transportierbar machte. Bruno Latour, Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente, in: Andréa Belliger u. David J. Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld, S. 272–276. In Analogie dazu erlaubt der 3D-Drucker quasi die Mobilisierung von Dingen, weil das Artefakt an jedem beliebigen Ort reproduzierbar wird.
[43] Ich meine damit eine vor allem technische, die Idee der seriellen Massenproduktion verändernde Entwicklung. Erst in zweiter Linie ist eine nachindustrielle Gesellschaft im Sinne Daniel Bells gemeint: „Wenn hier von postindustrieller Gesellschaft die Rede ist, so sind in erster Linie die Änderungen in der sozialen Struktur gemeint, also der wirtschaftliche Wandel, die Verschiebungen innerhalb der Berufsgliederung und das neue Verhältnis zwischen Theorie und Empirie, vor allem zwischen Wissenschaft und Technologie.“ Daniel Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim, S. 144.
[44] Vgl. Holm Friebe u. Thomas Ramge, Marke Eigenbau. Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion, Frankfurt a.M. 2008, S. 11–19.
[45] Neil Gershenfield, FAB. The coming revolution on your desktop – from personal computers to personal fabrication, New York 2004, S. 5.
[46] Es ist auch fraglich, wie „professionell“ Design eigentlich ist. So hat Design, vor allem bei der Bastelei in der Werkstatt, improvisatorische und dilettantische Züge. Die Bastelei des Laien und die Bastelei des Designs scheinen auf einer Ebene zu liegen. Siehe hierzu: Annika Frye, Learning from Dilettantism, in: form 266 Juli/Aug. 2016, S. 78–82.
[47] Vgl. Charles Jencks u. Nathan Silver, Adhocism. The Case For Improvisation, London 1972, S. 63 ff.